Tag eins nach dem Volksreferendum in Griechenland. Das griechische Volk sagt Nein zu weiteren Sparauflagen der Troika. Über den Sinn und Zweck dieser Abstimmung lässt sich streiten. Es gab sie, und nun muss es vorwärts gehen – wieder einmal. Von der Ruhe nach dem Sturm kann nicht die Rede sein.
Die Debatte ist hoch emotionalisiert, der Blick nach vorn fällt schwer. Sachliche und faktentreue Argumente vermischen sich mit gekränktem Stolz – auf beiden Seiten. Klassische Links-Rechts-Schemata scheinen obsolet – die eigene Positionierung schwankt je nach Gefühls- und Faktenlage. Die Medien heizen das Feuer an; es ist schwer nüchtern zu bleiben und einen klaren Kopf zu bewahren. Die Satiriker freut es. Geht es doch uns alle an, was derzeit passiert: Unser Griechenland – unser Europa.
Eine Währungsehe in der Krise, die vor 14 Jahren geschlossen wurde und zudem noch einen schlechten Start hatte. In Ordnung, das war gestern. Auch der Vorwurf des Terrorismus. Nein, Herr Varoufakis, da verwechseln sie etwas. Gut, kann passieren, angesichts der vielen drängenden Probleme, die Europa derzeit stemmen muss. Und Feindbilder sind bisweilen notwendig. In Ordnung, erneut. Weil beide Seiten Schuld tragen. Konstruktionsfehler einer Ehe, die sich niemals als Solidargemeinschaft verstanden hat, niemals bereit war, bedingungslos Verpflichtungen einzugehen, niemals auf Vertrauen fußte. Ein fiskalpolitischer Rahmen ohne Seele. Es fehlte das politische Herz, die Bereitschaft Kompetenzen abzugeben und eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zu verfolgen. Wen wundert es, dass sich Griechenland und die europäischen Partner nun wie Eheleute gegenüberstehen, die nicht mehr miteinander, aber auch nicht ohneeinander auskommen. Klingt doch eigentlich ganz einfach, wenn man überzeugte Europäerin ist und an die Gestaltungskraft der europäischen Integration glaubt.
Das mag naiv klingen, auch in Ordnung. Doch die Alternative? Der Grexit wäre ein fatales Zeichen, eine nachhaltige Schwächung Europas. Öl ins Feuer der Rechtspopulisten, ein Einfallstor für Terroristen, ein erster Schritt der Rückkehr zur Bündnispolitik. Wo bleibt der umsichtige Blick der Verantwortung? Wer die Tragweite akuter globaler Probleme und Konfliktlinien nicht sieht, der / die möge bitte auf keinen Fall PolitikerIn sein [Raum für Notizen]. Wir alle brauchen eine starke (Werte-)Gemeinschaft – für die Menschen in Europa, für die Menschen, die zu uns flüchten, für die Menschen nächster Generationen.
Und ein Ende der Austeritätspolitik. Wie soll die griechische Wirtschaft in Schwung kommen, wenn die Menschen kein Geld ausgeben können, weil es ihnen weggespart wurde? Ein Spardiktat hat Grenzen, existenzielle – die sind erreicht. Mehr als das. So ist das Nein der Menschen in Griechenland zu verstehen – ein generelles Nein zu Europa war es nicht. Es war die minimale Hoffnung Luft zu schnappen. Die Fesseln des Spardiktats müssen gelockert werden – stattdessen ein Investitionsprogramm auferlegt werden, das die Wirtschaft ankurbelt und den Menschen ihre Ängste nimmt, ihnen Vertrauen zurückgibt. Und Vertrauen lässt sich nur aufbauen, wenn endlich dort das Geld abgezogen wird, wo es im Überfluss vorhanden ist. Welche Reformen hat die griechische Regierung dahingehend durchgesetzt? Wir, das gemeine Volk, wir alle wissen, wie schnell Gesetze im Ernstfall durchgebracht werden können. Wenn man nur will.
Die europäische Seite hingegen muss finanzielle Mittel für das Investitionsprogramm bereitstellen – entweder in Form neuer Gelder oder einem Schuldenerlass. Möglicherweise auch eine Kombination beider Formen. Nicht zu vergessen, dass auch andere europäische Länder ihre nationalen Haushalte in Ordnung bringen müssen. Langfristig gilt es, vertragliche Vereinbarungen flexibler und zeitgemäßer zu gestalten. Vorstellbar wären Modelle, die verschiedene Integrationsstufen vorsehen. Diejenigen Mitgliedstaaten, die eine Vertiefung wollen (bspw. im Bereich Steuerharmonisierung) arbeiten neue Kooperationskonzepte aus, die zu möglichen Anreiz- und Vorreitermodellen für die übrigen Mitgliedstaaten werden können. Die gemeinsame vertragliche Basis bleibt bestehen, doch ergeben sich auf diese Weise wirksame Integrationsmotoren, die nicht der üblichen institutionellen Kompetenzlähmung zum Opfer fallen. Zudem wäre einem Deutsch-Französischen Zentrismus Einhalt geboten (falls gewünscht) und der Brexit wäre so auch vom Tisch.
Den Medien obliegt die Aufgabe, konfliktsensibel mit Daten und Aussagen umzugehen. Wirtschaftliche Kennzahlen dürfen nicht länger missbraucht werden, um Meinungsmache zu betreiben. Europas Wohlfahrtssysteme gehen auf unterschiedliche (ideologische) Traditionen und Konstruktionen zurück. Rohdaten (Höhe des Renteneintrittsalters, Kosten eines Sozialsystems) können nicht losgelöst vom Kontext betrachtet und wahlweise miteinander verglichen werden. Statistiken bieten uns eine Spielwiese, doch kann es in diesem Fall keinen Gewinner geben. Entweder verlieren wir alle, oder wir gewinnen alle.
So tragen wir alle eine Verantwortung. Es geht schon lange nicht mehr um die Griechen, die Deutschen oder die Spanier. Wir Europäer sind es, die der europäischen Idee (wieder) eine Seele geben müssen. Die Krise als Chance begreifen.
Toller Artikel, der zum Nachdenken anregt. Du hast Recht wir müssen uns nicht nur mehr als Europäer sehen,sondern auch danach handeln. Freue mich auf weitere Artikel!
Wunderbarer Artikel – danke!